Verzauberung und Ernüchterung in einem
»Róža Domašcyna neuer Band eröffnet mit einer Einstimmung in Orte und eine Landschaft, die real und irreal gleichermaßen erscheinen, um die sich Legenden gebildet haben. Nicht zuletzt aus diesem Arsenal der Überlieferungen bezieht die Autorin ihren poetischen Stoff und konfrontiert das Material mit der Gegenwart, dem eigenen kritischen Verstand – daraus resultieren Verzauberung und Ernüchterung in einem, auch wenn man zum Beispiel bedenkt, dass viele dieser Orte mittlerweile nicht mehr existieren, es sei denn als Topoi, als Namen in der Sprache, der Erinnerung. Und von denen außer Geschichten nur noch die Koordinaten auf der Landkarte existent sind.«
Nachwort von Jayne-Ann Igel
Überaus prägnant und eindrücklich ist das
Verfahren der Autorin, die dörfliche Welt
zu einer Projektionsfläche der Ich-Findung
werden zu lassen (»diese gegend sieht uns
ähnlich«). Die Metapher der Haut zeigt
zusätzlich an, wie die wechselhaften und
nervösen Eindrücke der Außenwelt auf das
lyrische Ich treffen. So wird Domascynas
Gedichtband, der zwischen alltäglichen
und philosophischen Sinnebenen pendelt,
zu einem versierten und unbedingt zu entdeckenden
Werk.
Am Erker
Im Eröffnungsgedicht von Róža Domašcyna Gedichtband ... heißt es: »wer keinen grund sieht muss im nirgends ankern«. Dieses »nirgends« ist für die Sorbin, in deren Gedichten nicht nur die konfliktreiche Koexistenz zweier Kulturen in der Lausitz, sondern mit den Braunkohletagebauen auch das Verschwinden der Landschaft anklingt, ein fester Topos. Domašcyna gelingt es, diese Prozesse einfließen zu lassen, ohne daß sie das Poetische ihrer Bilder dominieren. Da bekommt sogar Bitternis über erlittene Verluste etwas Freundliches und Leichtes: »wir träumen vom wachsenden wohlstand / wir übersetzen den traum in kohle / nun ist es ein märchen briketts und abrieb / wir übersetzen das märchen in staub«. ... Jayne-Ann Igel nennt sie in ihrem Nachwort eine »Seismographin der statthabenden Veränderungen, der beobachtbaren Brüche«. Ihre Gedichte gehen den Brüchen nach, der Text folgt den Gedanken genau.
Ostragehege
Wenn es in diesem sinnlichen Buch ein Sinnesorgan gibt, das es hervorzuheben und auf das es hinzuweisen gilt, dann ist es das Auge. Es ist für die Gedichte weitaus bedeutsamer als etwa der Geruchs-, der Tast- oder der Hörsinn. Was der sorbischen Dichterin Róža Domašcyna in den Blick kommt, was ihr ins Auge fällt, wird eingefangen und in Sprache verwandelt, ist Sujet, das der Schauenden zum Gedicht wird.
Fixpoetry
Die schönsten weil auch anrührendsten, nachvollziehbarsten Gedichte handeln von den nächsten Menschen aus dem Binnenkosmos ihrer Schreiberin. Ihr Sieh genauer hin spielt dann bereits auf einer etwas weiter fortgeschritt'nen Stufe oder auch Station, wo sie dann alle quasi nicht mehr leiblich da sind; »tritt sacht auf / der friedhof ist neu gepflastert«...
Kultura extra
Diese Imaginationskraft zersetzt auf faszinierende Weise jede Möglichkeit einer einfachen, aufs Sinnstiftende abzielenden sprachlichen Verfahrensweise und ersetzt sie durch eine mehrschichtige, tiefergehende Eruierung und Verdichtung, die oft in nicht gestellten, kaum angebahnten Fragen zu Tage tritt und gipfelt, die hinter den aufgeworfenen Dingen liegen, lauern, auftauchen. Versprechen, Versuchungen, Vermutungen, Verluste und vieles mehr, das alles wird durch die Worte in eine Ferne gerückt, beiseitegeschoben, und kehrt zurück als eine Grundierung, tropft durch ein Leck im Rumpf der Zeilen, der gegen die Aufmerksamkeit des Lesenden stieß.
»tun einfach alles um unsere gestalt lange
bei zu behalten in der stunde
die nach rosen und fäulnis duftet«
Wie so oft, ist es auch hier unmöglich, auf alle unerhörten, faszinierenden und komplexen Phänomene innerhalb des Bandes einzugehen und sie genug und ausreichend abzutasten – ein Einblick/Ausblick muss genügen. Es gibt in jedem einzelnen Text noch viel zu entdecken, das Haptische und Untergründige will genauestens nachvollzogen werden. Ich hoffe, dass sich viele Leser*innen zu diesem Abenteuer einfinden.
Signaturen | Timo Brandt
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